Ich freunde mich seit ein paar Monaten mit dem Erfurter Norden an. Dass sich ein Blick über den Tellerrand lohnt, darüber habe ich schon im Beitrag über meine Lovestory mit der Magdeburger Allee erzählt. Ein anderes Beispiel für diese These, die ehrlicherweise nicht von mir stammt: Der Nordbahnhof – eine kulturelle Oase, die an Vielfältigkeit nur schwer zu überbieten ist.
Es war einmal ein alter Bahnhof…
…dessen Geschichte im Jahr 1869 begann und an dem noch heute die Regionalzüge im 30-Minuten-Takt halten. Trotzdem geriet das Bahnhofsgebäude im Laufe der Zeit mehr und mehr in Vergessenheit und wurde schließlich dem Zerfall überlassen. Bis im Jahr 2013 Joschi Korte, seines Zeichens ein stadtbekannter Plattenhändler, hoch nach Ilversgehofen kam und entschied, den Nordbahnhof zu kaufen.
Nachdem das Erfurter Urgestein über 20 Jahre in der Innenstadt aktiv war, wurde es irgendwann regelrecht aus ihr vertrieben. Das fortschreitende Aufpolieren des Zentrums und die zunehmenden Beschwerden wergen Lärmbelästigungen, die Joschi wegen der Konzerte in seinem Plattenladen erreichten, bestärkten ihn in seinem Beschluss, dem Erfurter Kern den Rücken zu kehren und sein Glück stattdessen an anderer Stelle zu suchen. Wie sich zeigte, sollte er es im Norden der Stadt finden.
Eingerahmt zwischen dem alten Malzwerk, dem Gleisbett und einer Ziegenweide, die zum interkulturellen Gemeinschaftsgarten Paradies gehört, erschufen Joschi und seine Weggefährten vom Nordbahnhof e.V. hier in den nächsten zwei Jahren nach und nach einen Ort, der partout in keine Schublade passen möchte.
Der Plattenladen Woodstock Recordstore
Es ist fast schon eine Selbstverständlichkeit, dass sich Joschi auch in seiner neuen Bleibe wieder dem Verkauf von Vinyl verschrieben hat. Im neuen Woodstock Recordstore, der sich über mehrere Räume und Etagen erstreckt, wird garantiert jeder Musikfan fündig. Von Pop bis Reggae, von Indie bis Hiphop – Musikgenres werden zwar durchaus als solche behandelt, aber keinesfalls bevorzugt oder vernachlässigt.
Als ich den Nordbahnhof vor ein paar Wochen besucht und im Sortiment des Record Stores gestöbert habe, fand ich besonders cool, durch das Fenster die haltenden Züge am Gleis beobachten zu können. Sie haben mir noch einmal ins Gedächtnis gerufen, dass das Gebäude noch immer als Bahnhof dient und trotzdem auch so viel mehr ist. Eine ziemlich spannende Symbiose, auf die Erfurt eigentlich ziemlich stolz sein könnte. (Eigentlich, denn in den Augen so mancher Politiker_innen ist die Gegend nichts weiter als ein sozialer Brennpunkt mit hoher krimineller Energie.)
Der Club Frau Korte
Wenn es um den Nordbahnhof geht, wird meist im gleichen Atemzug auf die Frau Korte verwiesen. Der noch verhältnismäßig junge Stern am Erfurter Club-Himmel hat es in der kurzen Zeit seines Bestehens bereits geschafft, sich einen guten Ruf aufzubauen. Das liegt zum einen an der familiären, ja schon intimen Atmosphäre, die Frau Korte aussprüht – aber auch an der musikalischen Bandbreite, die hier bedient wird.
Wirft man einen Blick in das Monatsprogramm des Klubs, wird ganz schnell klar: Hier wird – ganz ähnlich wie im Recordstore einen Etage höher – auf die Abgrenzung einzelner Genres gepfiffen. Das Ergebnis ist ein kunterbuntes Allerlei aus Konzerten und Partys, bei denen die Musik tatsächlich noch von der Schallplatte kommt. Frau Korte ist immerhin eine Vinyl-Liebhaberin, wissen die Mitglieder vom Nordbahnhof e.V. Außerdem finden im Club Lesungen, Workshops und andere Formate statt. Die Vision des Vereins um Joschi Korte: „Einen Ort zu etablieren, der Raum für experimentelle und vielseitige Veranstaltungen bietet“.
So vielversprechend das klingt (und definitiv auch ist), noch immer klagt die Crew darüber, dass sich nur wenige Besucher zum Nordbahnhof verirren und ziemlich coole Events entgehen lassen. Woran das liegt? Reine Spekulation. Denn das Argument „Da kommt man so schlecht hin“ ist absoluter Humbug. Tatsächlich ist der Nordbahnhof und damit auch die Frau Korte ziemlich gut an den Erfurter Öffi angebunden: Mit Bus (Linie 9, Endhaltestelle Nordbahnhof), mit Tram (Linien 1 und 5, Haltestelle Salinenstraße) und mit dem Zug in Richtung Nordhausen und Mühlhausen.
Kaffee, Flohmarkt, Boule und mehr
Dass der Nordbahnhof seine Aufgabe als kulturelles Zentrum im Erfurter Norden absolut ernst nimmst, wird spätestens dann deutlich, wenn du dir vor Augen führst, was die Location noch alles zu bieten hat. Zweimal im Jahr organisiert der Verein einen Flohmarkt. Außerdem hat er in den letzten Monaten ein kleines Café etabliert. Hier kann nach dem Platten-Shopping noch ein leckeres Heißgetränk genossen werden.
Ein weiteres Projekt, auf das ich ziemlich gespannt bin, ist das geplante Boule-Spielfeld. Dieses soll auch dem Außenbereich des Nordbahnhofs, der bisher ungenutzt war, eine Aufgabe geben.
Ich bin absolut davon überzeugt, dass wir in den kommenden Monaten und Jahren noch viel mehr vom Nordbahnhof e.V. hören werden. Dieser Ort am obersten Ende der Magdeburger Allee sprüht nur so vor Kreativität und Aktionismus. Da ist es nur schwer vorstellbar, dass der Verein diese Potentiale verstreichen lässt.
Lieber Nordbahnhof e.V., bitte macht weiter wie bisher. Erfurt kann jeden Farbakzent und jede neue Facette gebrauchen!
Liebste Grüße,
Jessi
Fotos: Jessika Fichtel | Feels like Erfurt
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