Sonntagmorgen. Ich habe den ultimativen Stubenhockersamstag hinter mir und bin schon darauf einstellt, weitere 24 Stunden im eigenen Saft zu schmoren. Um möglichst viel vom Tag zu verpennen, bin ich so lang wie möglich wach geblieben und habe mir (für meine Verhältnisse) die Nacht um die Ohren geschlagen. Als ich dann gegen halb elf die Augen aufgeschlagen habe, wollte ich es gar nicht wahrhaben. Mein schlimmster Alptraum wurde wahr: Die Sonne strahlte hämisch grinsend vom blauen Himmel. All meine Pläne waren dahin. Kein melancholisches Kakaoschlürfen, kein exzessives Schreiben am Erstlingsroman, kein Gilmore-Girls-bis-zum-Umfallen-Gucken. Stattdessen zwang mich das unverschämt schöne Wetter, das Haus zu verlassen. Wie ärgerlich! ;-)
Wohin meine Reise gehen sollte, war schnell klar. Schon seit langem hatte ich eine Fototour zum alten Güterbahnhof – aka. Zughafen – geplant. Da der Freund das ganze Wochenende außer Haus war, hatte ich nicht nur die alleinige Entscheidungsgewalt über die weitere Planung, sondern auch absolute Ruhe. Schnelles Frühstück, schnelles Fertigmachen und ab geht die Luzie… ähm die Jessi.
Obwohl der alte Güterbahnhof verkehrstechnisch extrem gut an die Erfurter Innenstadt angebunden ist, würde ich diesem Ort durchaus einen gewissen Lost Place-Charme zusprechen. Das bedeutet nicht nur raue Ziegelsteinmauern und Erinnerungen an längst vergessene Tage, sondern auch ganz viel Dreck und Müll. Wenn es nicht zwingend notwendig ist, rate ich dir definitiv davon ab, im besten Sonntagsschmiss anzureisen. Gerade wenn du wie ich mit der Motivation, hier zu fotografieren, kommst, bleibt es einfach nicht aus, sich „ein bisschen“ dreckig zu machen.
Auf den ersten Blick erscheint das Areal relativ unspektakulär… und auch wenig charmant. Eisenbahn-Romantik trifft Müllhalde… oder so ähnlich. Auf jeden Fall nicht jedermanns Geschmack, würde ich sagen. Ich gebe zu, dass ich zuerst ein bisschen enttäuscht war. Irgendwie hatte ich diesen Ort spannender in Erinnerung, war ich doch hier bereits zum Hafenmarkt und zum nächsten Markt und beide Male euphorisiert. Als ich meinen Blick jedoch geschärft und auf einzelne Details fokussiert hatte, war es um mich geschehen. So viele Kleinigkeiten, so viele Besonderheiten. Der Auslöser meiner Kamera glühte und ich glaube, ein paar recht schöne Motive eingefangen zu haben. (Oder was sagst du?)
Was mich wirklich verwundert hat, war der Umstand, dass ich fast die ganze Zeit allein war. Nur einmal kam ein Schwung Menschen vorbei, die von den Sonnenstrahlen herausgelockt und zu einem Spaziergang überredet wurden. Ich sage ja: Lost Place-Feeling kommt hier auf jeden Fall auf. Ich gebe auch zu, dass mir vielleicht ein- oder zweimal ein leichter Schauer über den Rücken lief – nämlich dann, wenn ich so sehr auf das Fotografieren fokussiert war, dass ich das raschelnde Laub für unsichtbare Schritte gehalten habe. Die Phantasie spielt einem echt die fiesesten Streiche!
Was gibt es sonst noch zum Güterbahnhof zu sagen? Der Ort unweit des Erfurter Hauptbahnhofs ist weiß Gott keine Schönheit im klassischen Sinne. Man muss die Ecken und Kanten des Areals wirklich mögen, um hier nicht nur durchzuhasten, sondern auch einmal innezuhalten. Wenn man sich die Zeit nimmt, entdeckt man viele tolle Details.
Sicherlich ist vielen der alte Güterbahnhof erst seit dem Ausbruch der Kreativmarkt-Manie bekannt. Auch ich war vorher noch nicht hier. Umso wichtiger war es mir, diesen Teil von Erfurt auch mal abseits der belebten Märkte kennenzulernen. Abseits vom Trubel und übersprudelnder Kreativität, abseits von Menschenmassen und lauter Musik. Rückblickend betrachtet, war es wahrscheinlich nötig, hier ganz allein (mit meiner Kamera) zu sein, um den Zauber des Ortes in seiner ganzen Macht und Pracht zu spüren. Das klingt wahrscheinlich kitschig und ist es ganz sicher auch, aber ich fühle mich gut beim Schreiben dieser Worte. Darum lasse ich sie auch so stehen und gebe sie dir zum Lesen.
Liebste Grüße,
Jessi
Fotos: © Jessika Fichtel | Feels like Erfurt
6 Antworten
Nun habe ich endlich einen Gegenbesuch getätigt! :-)
Der alte Güterbahnhof in Erfurt ist mir selbst bestens vertraut. Viel davon ist ja nicht mehr übrig – dem Umbau des Hbf und dessen Gleisanlagen sei „Dank“ ;-)
Dennoch ist es dir gelungen, schöne Impressionen und Details dort einzufangen!
Dein Beitrag hat mich dazu ermuntert, selbst einmal einen „Lost Places“-Beitrag über verfallene Gleisanlagen zu machen.
Davon gibt’s in Frankfurt nämlich auch so einige.
Liebe Grüße dir aus der Mainmetropole,
Matze
Ach wie cool, du kennst dich also sogar ein bisschen in Erfurt aus? :) Freut mich sehr, wenn ich dich inspirieren konnte.
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